Interview mit Ernährungsmediziner Prof. Dr. Hauner

"Wir müssen lernen, bewusster zu genießen”

Ernährungsmediziner Prof. Dr. Hans Hauner im Gespräch über unsere Essenskultur, die innere Balance und gesunde Ernährung für Erwachsene und Kinder.

Buntes Obst in einer Reihe: Johannisbeeren, Zitronen, Blaubeeren, Erdbeeren, Birnen, Weintrauben, Himbeeren, Bananen, Äpfel, Brombeeren

Herr Prof. Dr. Hauner, können wir mit gesunder Ernährung ewig leben?

Ewig können wir sicher nicht leben, aber wir können unser Leben durch gesunde Ernährung verlängern – dabei geht es immerhin um bis zu 15 Lebensjahre. Aber was noch wichtiger ist: Ernährung macht 20 bis 30 Prozent unserer Gesundheit aus. All unsere Organe und unser gesamter Körper in seinen Leistungen sind davon abhängig, was wir ihnen an Energie und Nährstoffen liefern. Mit gesunder Ernährung bleiben wir besser gesund, sind fitter und haben mehr Spaß am Leben.

Schwerpunkte Ihrer Forschung sind Erkrankungen wie Adipositas und Diabetes. Wie hoch sind die Risiken für solche Erkrankungen in unserer Gesellschaft?

In Deutschland sind ungefähr 60 Prozent der Bundesbürger übergewichtig oder adipös, also haben einen Body-Mass-Index (BMI) von über 25 oder sogar über 30 (Adipositas). Die Tendenz ist steigend. Im Ländervergleich sind wir leider vorne mit dabei. Adipositas ist ein Treiber für viele Krankheiten wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Probleme oder sogar Krebs. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die schon vor Jahrzehnten begonnen hat: Etwa 10 Prozent der Kinder wiegen schon bis zum Schuleintrittsalter zu viel. Dieser Prozentsatz steigt bedenklich, sobald die Kinder in die Pubertät kommen und somit aus der elterlichen Beobachtung heraustreten.

Wie sieht die richtige Ernährung aus?

Die richtige Ernährung ist eigentlich relativ einfach. Wir wissen sehr gut, was der Mensch an Nährstoffen braucht: Kohlenhydrate und bevorzugt ungesättigte Fette als Energiequellen, Eiweiß für den Aufbau der Körperstrukturen. Hinzu kommen eine ganze Menge an Mikronährstoffen wie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, die in sehr komplexer Weise zusammenwirken. Fertiggerichte und Schnellmahlzeiten, die bei uns immer häufiger auf den Tisch kommen, sind üblicherweise reich an Kalorien und verlieren zudem durch ihre Verarbeitung viele wertvolle Inhaltsstoffe. Stattdessen sind sie häufig mit hohen Mengen an Zucker, Salz und gesättigtem Fett angereichert und eher nährstoffarm. Gesunde Ernährung besteht im Wesentlichen aus reichlich Obst und Gemüse (5 Portionen am Tag), aus Vollkornprodukten (auch Vollkornmüsli), Nudeln, Kartoffeln, Milchprodukten und eher weniger Fleisch. Mit Zucker und Salz ist sparsam umzugehen. Bevorzugt Getränke ohne Zucker oder Alkohol.

Sind Ernährung und Genuss ein Widerspruch?

Wir wählen unsere Speisen in erster Linie nach dem Geschmack aus. Was gut schmeckt, essen wir häufiger und lieber. Das steckt unveränderbar in unseren Genen. Menschen schätzen meistens Süßes. Diese Vorliebe ist ein urzeitliches Erbe: Schon in der Frühzeit signalisierte Süße, dass es sich um ein sicheres und energiereiches Lebensmittel handelt. Gerade die Kombination von Zucker und Fett verführt uns leicht. Gleichzeitig ist bekannt, dass Menschen verschiedene Geschmacksvorlieben haben. Wir haben Studien durchgeführt, in denen wir Kinder und Erwachsene befragt haben, welches Speisen sie mögen. Das Ergebnis war eine Liste mit 120 Lebensmitteln. Damit haben wir einen großen Korridor an gesunden Speisen, die einer breiten Masse wirklich gut schmecken.

Essen Sie selbst Süßigkeiten?

Doch, natürlich! Ich liebe zum Beispiel Schokokekse - allerdings esse ich wenige davon und zusätzlich gerne noch einen Apfel oder eine Orange. Wir dürfen uns also etwas gönnen. Es kommt immer auf die Menge und die Verarbeitung an. Schokolade ist in Maßen auch nicht schädlich, am besten hat sie einen hohen Kakaoanteil.

Wenn die Ernährung ins Ungleichgewicht geraten ist oder man vielleicht nie wirklich eine gesunde Ernährung hatte – wie findet man den richtigen Weg?

Der wichtigste Schritt besteht darin, sich erst einmal bewusst zu machen, was man so im Laufe eines Tages isst. Am besten also ein paar Tage lang aufschreiben, was und wann man Nahrung oder Getränke zu sich nimmt. Den meisten wird dann schnell klar, wo ihre „Schwachpunkte“ liegen und was alles auch ohne Hungergefühl konsumiert wird. Oft sind es die durch die Erziehung vermittelten Essgewohnheiten, die zu übermäßiger Kalorienaufnahme führen. Andere essen wiederum in Stresssituationen zu viel, was sich dann im klassischen „Kummerspeck” äußert. Gerade Snacks sind ein großes Problem: Es erstaunt mich immer wieder, wie viele Menschen unbewusst an der Tankstelle zu einem Schokoriegel greifen. Die Mehrheit kann sich am Abend gar nicht mehr daran erinnern. Dennoch würde ich Süßigkeiten nie verbieten, auch Kindern nicht. Es geht aber darum, bei den vielen Essverführungen standhaft zu bleiben und bewusst und in Maßen zu genießen.

Warum ist es wichtig, dass wir Kinder schon in jungen Jahren an das Thema Ernährung heranführen?

Der Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hat uns kürzlich gezeigt, dass 30 Prozent unserer Kinder so gut wie kein Obst oder Gemüse essen. Viele Kinder kennen die meisten Sorten überhaupt nicht mehr. Leider zielt der Großteil der Werbung darauf ab, Kinder zu ungesunden Lebensmitteln zu verführen. Dabei brauchen wir keine Kinder-Lebensmittel und auch keine eigene Speisekarte für Kinder im Restaurant, voll von Schnitzel, Wurst und Pommes, die Kinder an fettreiches und kalorienreiches Essen gewöhnt. Das ist nicht mehr zeitgemäß, sondern schädlich. Länder wie Frankreich sind uns hier einen Schritt voraus: Kinder bekommen dieselben Speisen wie Erwachsene. Das ist nicht nur gesünder, sondern Kinder lernen spielerisch und leicht, das zu essen, was ihnen schmeckt. Wichtig ist es auch, dass Kinder beim Essen möglichst viele verschiedene Lebensmittel ausprobieren, um ihre Lieblinge zu finden, aber auch um sich breit und ausgewogen zu ernähren.

Worauf müssen wir bei der Ernährung von Kindern, gerade im Wachstum, besonders Acht geben?

Wachstum bedeutet schlichtweg, dass der Körper mehr von bestimmten Stoffen benötigt –für eine lebenslange Gesundheit. Eine Mangelernährung in diesen Jahren könnte zu Wachstumsstörungen führen und langfristig ungünstige Auswirkungen, etwa auf die Knochengesundheit, haben. Kinder benötigen reichlich Obst, Gemüse und Vollkornprodukte. Auch Müsli, selbstgemacht versteht sich, ist ideal für Kinder. Insbesondere Milchprodukte versorgen Kinder mit genügend Kalzium. Wir bauen unsere Knochen bis zum Alter von etwa 30 Jahren auf. Dann haben wir die maximale Knochenmasse erreicht, von der wir den Rest des Lebens zehren.

Ab wann erachten Sie eine vegane Ernährung für Kinder als sinnvoll?

Es ist nicht leicht, Kinder vegan zu ernähren und dabei sicherzustellen, dass sie ihren Nährstoffbedarf optimal decken. Eltern müssen sich an bestimmte Spielregeln halten. Manche Nährstoffe sind ausschließlich in tierischen Lebensmitteln vorhanden, wie zum Beispiel Vitamin B 12. Etwa Hafermilch als vegane Alternative enthält nur wenig dessen, was die Qualität von Milch ausmacht und ist damit als Ersatz völlig ungeeignet. Ein wenig besser ist da noch Sojamilch. Wer ein Baby vegan ernähren möchte, muss im Interesse des gesunden Wachstums und der Entwicklung des Kindes unbedingt Vitamin B12 und eventuell weitere Nährstoffe supplementieren. Damit sind die Eltern oft überfordert. Was Kinder betrifft, rate ich daher von dieser Ernährung ab. Es gibt dazu auch ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung: Sowohl in der Schwangerschaft und in der Stillzeit sowie im gesamten Kindes- und Jugendalter wird eine vegane Ernährung nicht empfohlen. Das heißt nicht, dass es unmöglich ist, aber man muss sich sehr gut auskennen und bewusst ernähren.

Was war in den vergangenen Jahren die größte Veränderung in der Ernährungsmedizin?

Die Fragen, wie Ernährung und Gesundheit zusammenhängen und wie sich dadurch Krankheiten verhindern lassen, haben enorm an Bedeutung gewonnen. Auch der Mensch als Individuum ist mehr in den Fokus gerückt. Ernährungspläne- und Empfehlungen funktionieren nicht nach dem gleichen Schema. Das hat sich auch beim Thema Adipositas herausgestellt: Früher diente eine fettreduzierte Ernährung der Energiebegrenzung, mittlerweile gibt es sehr verschiedene Ernährungskonzepte, darunter auch Low-Carb in moderater Form oder Intervallfasten, die für eine Gewichtskontrolle gut geeignet sind. Auch die Diskussion darüber, wie viele Mahlzeiten wir zu uns nehmen sollten, ist heute vorbei. Es geht darum, dass wir am Ende einen gesunden Gesamtmix in unserer Ernährung haben. Es gibt sozusagen einen breiten Korridor, in dem jede Person etwas Passendes finden und sich gesund ernähren kann.

Was war Ihr Beweggrund, Ernährungsmediziner zu werden?

Mich hat Stoffwechsel und die Biochemie der Nährstoffe in unserem Körper schon immer fasziniert. Wie Hormone und Ernährungsfaktoren Wachstumsprozesse und Organfunktionen positiv und negativ beeinflussen können. Ich habe nach dem Studium auch sofort den Weg in Richtung Innere Medizin, Endokrinologie und Stoffwechsel eingeschlagen. Ein eigenes Fach der Ernährungsmedizin gab es damals nicht, dieser Weg war lange eine Sackgasse in der Medizin. Jetzt merke ich natürlich, dass meine damalige Einschätzung richtig war. Was uns alle beschäftigen muss – und das hat in den 90er Jahren bis heute stark zugenommen – sind das sich eher ungünstig entwickelnde Nahrungsmittelangebot und die Irreführung durch die Werbung. Trotz der Kritik aus der Wissenschaft und der Zunahme ernährungsbedingter Krankheiten sind Politik und andere Verantwortungsträger noch nicht bereit, etwas gegen diese Entwicklung zu unternehmen. Auch die Ernährungsindustrie hat nur Interesse, möglichst billig zu produzieren und die Geschmacksvorlieben zu bedienen. Zur Wahrheit gehört auch, dass die meisten Verbraucher ihre Kaufentscheidung nur nach Preis und Geschmack treffen. Qualität und Gesundheit spielen fast keine Rolle. Es geht aber auch anders, wie viele Länder zeigen. So haben mehr als 50 Länder der Welt eine Zuckersteuer eingeführt, mit Erfolg. In vielen Ländern gibt es Verbote oder zumindest Einschränkungen für Lebensmittelwerbung, insbesondere, wenn sie sich an Kinder und Jugendliche richtet. Es gäbe also viele, sogar kostenlose Möglichkeiten dagegen vorzugehen. Leider ist die deutsche Politik wegen des Drucks der Lobbygruppen bisher untätig geblieben.

Oft wechselt ein Ernährungshype den anderen ab, der Wunsch nach Selbstoptimierung zieht sich konsequent durch. Wie findet man für sich die richtige Balance?

Die sozialen Netzwerke sind heute zur zentralen Plattform geworden, über die viele Menschen kommunizieren und sich selbst darstellen. Der Wunsch nach Selbstoptimierung und Perfektion hat auch dazu geführt, dass darüber viele Produkte, darunter auch Lebensmittel, vermarktet werden. Eine kürzliche Auswertung hat gezeigt, dass dort fast nur ungesunde Lebensmittel beworben werden und dass Kinder und Jugendliche darauf besonders ansprechen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Leider werden diese Medien kaum genutzt, um gesundes Essen und gesunden Sport zu fördern. Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche früh lernen, damit umzugehen und diese Botschaften kritisch zu betrachten. Wichtig ist auch, sich Pausen vom Smartphone zu nehmen und sein Essen in der Kita, Schule oder Familie selbst zuzubereiten. Selbst kochen heißt immer gesünder essen.

Gesunde Ernährung ist nicht alles.

Ganz genau. Unsere Muskeln sind dazu da, dass wir uns bewegen. In der richtigen Weise bewegen – und nicht übertreiben. Auch hier sind wir wieder beim Thema Balance. Chronischer Stress ist ein großes Gesundheitsrisiko für uns alle. Schlaf und Entspannung sind genauso wie gesunde Ernährung wichtig für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit.

Zur Person: Prof. Dr. Hans Hauner ist seit 2003 Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin mit Standorten am TUM-Klinikum rechts der Isar und am Wissenschaftszentrum Weihenstephan. Seine fachlichen Schwerpunkte liegen auf der Erforschung von ernährungsmitbedingten chronischen Krankheiten wie Adipositas und Diabetes Typ 2. Mehr lesen Sie hier.